Die gottverlassene Gesellschaft
- Chiara Effing
- 21. Okt. 2024
- 2 Min. Lesezeit
By Chiara Tegist Effing

Taxifahrt durch Addis Abeba. Während die Scheinwerfer über grosse Gebäude gleiten und schwache Straßenlaternen hupende Autos, Menschen, Kühe, Ziegen und Esel – die ihren Weg auf den überfüllten Strassen suchen – beleuchten, kann mein Blick nicht von den Geschichten abweichen, die sich direkt vor meinen Augen abspielen.
Erste Ampel: Bettelnde Kinder klopfen leise an die Scheibe des Autos. Wie sollte es anders sein, spiegeln ihre Augen eine gewisse Leere wider. Sie starren in eine Welt, die ihnen nichts zu geben hat.
Zweite Ampel, rechts am Straßenrand: Kinder ohne vollständige Gliedmassen spielen auf den staubigen Strassen. Es scheint, als hätten sie gelernt, das Unbegreifliche zu akzeptieren. Dies ist wohl der Inbegriff von Resignation.
Dritte Ampel: Drei Frauen, Kriegsflüchtlinge, stehen am Straßenrand. Jede von ihnen hält ein Baby in den Armen. Sie strecken nicht nach Geld die Hand aus, sondern nach Essen.
Diese Bilder wiederholen sich an jeder weiteren Ampel und an jeder Straßenecke – bis sie sich zu einem düsteren Rhythmus der Stadt verweben.
Wenn man mit diesen alltäglichen Szenen auf einer Fahrt durch Addis Abeba konfrontiert wird, antworten viele (mich eingeschlossen) mit einer einfachen, altbekannten Redewendung: Igizī’ābiḥēri yisit’ihi, übersetzt: „Gott wird dir helfen.“ Es ist ein amharischer Ausdruck, tief verwurzelt im kulturellen Glauben, der vielleicht Trost spenden soll, aber im Kern eine bittere Wahrheit verschleiert — das Versagen menschlicher Verantwortung.
Denn die Wahrheit ist brutal: Gott wird nicht helfen. Er hat nie geholfen und wird auch nicht kommen, um die ausgestreckten Hände oder die leeren Blicke zu füllen.
Während die Unterdrückten sich an die biblische Geschichte von Hiob klammern – einem Mann, dem alles genommen wurde, um seinen Glauben zu testen – ist ihr Leid in meinen Augen keine göttliche Strafe. Es ist kein Test ihrer Loyalität zu Gott, sondern das Resultat menschlichen Versagens, Egoismus, Gier, falscher Führung, systematischer Ausbeutung und der Tatsache, dass die Welt nun mal ungerecht ist.
Und wenn es doch einen Gott gibt, dann hat diese Gesellschaft längst seinen Schutz verloren. Sie ist nicht verloren, weil sie geprüft wird, sondern weil sie für Gott – und auch für uns – längst unsichtbar ist.
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