Ungebildet genug, um zu hoffen.
- Chiara Effing
- 6. Aug.
- 2 Min. Lesezeit

Man sagt, das Dorf habe keinen Namen. Denn wer sich kennt, braucht keinen. Ob das stimmt? Absolut nicht. Aber es klingt schöner. Und poetischer.
Ehrlich gesagt: Ich habe einfach vergessen, wie das Dorf heisst, von dem ich erzählen möchte.
Es liegt irgendwo in der Region Gambela – dort, wo die Erde rot ist wie getrocknetes Blut und der Wind die Namen der Verstorbenen flüstert.
Das ist keine erfundene Metapher: Die Menschen dort glauben, dass die Seelen der Verstorbenen im Wind weiterleben. Ein schöner Gedanke, nicht wahr?
Doch eigentlich geht es in dieser Geschichte gar nicht um das Dorf. Sondern um Tesfaye.
Tesfaye lebt dort.
Er ist vielleicht 20 Jahre alt, vielleicht auch jünger. In seinem Dorf zählt man ab einem gewissen Alter nicht mehr die Jahre, sondern die Verantwortung.
Und Tesfaye ist ein Mann – der letzte Überlebende seiner Familie.
Ich habe genau zwei Tage mit ihm verbracht. Zwei Tage, in denen ich gelernt habe:
Tesfaye ist laut. Er ist wissbegierig. Unermüdlich redselig. Ein unerschütterlicher Optimist mit dem Herzen eines Geschichtenerzählers. Er ist – ganz ehrlich – ein ziemlich nerviger Junge.
Tesfayes Stolz auf sein Land ist grösser als sein Schmerz und Verlust. Er glaubt daran, dass sein Dorf der Regierung es wert ist, geschützt zu werden – vor Ausbeutung, vor Kriegen, vor dem Vergessen.
Er glaubt daran, dass der Tod seiner Familie nicht sinnlos war. Dass sie jetzt tanzen, irgendwo zwischen Bäumen und Wolken, getragen vom Wind, an einem besseren Ort.
Er glaubt daran, dass auch für ihn etwas Grosses vorgesehen ist. Denn er will Soldat werden – einer von denen, die manchmal durch das Dorf ziehen, mit glänzenden Uniformen, Waffen über der Schulter und einem Blick, der entschlossen wirkt.
Er will kämpfen. Für das Land, das er liebt. Für die Menschen, die ihm wichtig sind.
Kurz gesagt: Tesfaye ist ungebildet genug, um zu hoffen.
Doch die Wahrheit ist: Das Land, das er liebt, liebt ihn nicht zurück. Es schützt seine Leute nicht – es verkauft sie an den Meistbietenden.
Seine Familie ist nicht für einen höheren Sinn gestorben, sondern weil zwei Parteien sich um Macht gestritten haben.
Und Tesfaye? Er wird niemals Soldat sein. Für ihn ist nichts geplant. Kein Weg, keine Zukunft, kein Versprechen.
Er ist – wie so viele – ein Opfer eines Krieges, den kaum jemand versteht. Ein Krieg der Kulturen, der Geschichten zerstört, bevor sie erzählt werden können.
Und trotzdem glaube ich: Wenn er heute noch hier wäre, würde er weiter an das Gute glauben. Denn manchmal muss man Hoffnung bewahren – selbst wenn alles dagegen spricht. Nicht trotz allem, sondern genau deswegen.
Tesfaye wurde nie Soldat. Aber er war ein Kämpfer – für das Leben, für seine Träume, für etwas, das grösser war als er selbst.
Tesfaye – ein tragischer Optimist? Mag sein. Doch er wusste, dass grenzenloser Optimismus nicht die Welt um uns herum verändert,sondern die Welt in uns.
Amesegenallo, Tesfaye.
Le tesfah.
Le emnetih.
Le tarikih.
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